Die unendliche Geschichte der Neustrukturierung des Kinder- und Jugendnotdienstes in Chemnitz

Im August 2018 fasste der Jugendhilfeausschuss (JHA) einen wegweisenden Grundsatzbeschluss zum Kinder- und Jugendnotdienst. Der Kinder- und Jugendnotdienst (KJND) in der Flemmingstraße 97 sollte aufgelöst und dafür eine dezentrale Struktur für die Inobhutnahme (ION) von Kindern und Jugendlichen geschaffen werden. Der KJND in der Flemmingstraße genügt baulich und in seiner Lage am Rande eines Wohngebietes nicht mehr den sozialpädagogischen Anforderungen. Deswegen sah der Grundsatzbeschluss vor, den Kinder- und Jugendnotdienst auf vier voneinander getrennte Angebote zu dezentralisieren. Die vier Säulen bestehen aus einer ION für Kinder im Alter von 06 Jahren. Zwei weitere Objekte sollen den Bedarf an ION-Plätzen für ältere Kinder und Jugendliche decken. Als vierte Säule ist eine weitere alternative und niedrigschwellige Unterbringungsmöglichkeit für Jugendliche vorgesehen, die keine intensive Betreuung im Rahmen der ION brauchen oder wünschen: die sogenannte „Sleep In“-Stelle.
Diese neue, dezentrale Struktur in Bezug auf unterschiedliche Altersgruppen und Bedarfe ist bzw. wäre in Sachsen einmalig und innovativ. Alle vier Elemente des Kinder- und Jugendnotdienstes sind nach dem SGB VIII Pflichtaufgaben der Stadt Chemnitz.
Für die Umsetzung der Sleep-In-Stelle wurden die notwendigen Haushaltsgelder in Höhe von ca. 500.000€ eingeplant und im JHA (März 2019) beschlossen, dass das AJZ Chemnitz e.V. die Trägerschaft für das Projekt übernimmt.
Aufgrund der Kündigung des angedachten Mietobjektes und Schwierigkeiten beim Finden eines neuen Mietobjektes wurde der Beschluss im Dezember 2019 zunächst wieder aufgehoben, jedoch mit der Maßgabe, noch einmal konzeptionell das Angebot zu überdenken und einen Finanz- und Zeitplan vorzulegen.
Am 1. Juni 2019 hat die ION-Stelle für Kinder im Alter von 06 Jahren durch den Kinder- Jugend- und Familienhilfe e.V. in der Parkstraße ihren Betrieb aufgenommen. Die älteren Kinder und Jugendlichen werden nach wie vor in der Flemmingstraße in Obhut genommen. Träger ist seit 01.07.2019 die SFZ Förderzentrum gGmbH. Dieser Träger baut aktuell zwei weitere Objekte neu, um auch für die Altersgruppe der älteren Kinder und Jugendlichen optimale Bedingungen zu schaffen, aber auch den Anforderungen an Schutz und Sicherheit sowie dem dezentralen Charakter der neuen Struktur des KJND gerecht zu werden. Die Objekte befinden sich in der Chopinstraße 2 und der Reichenhainer Straße 85. Die Baumaßnahmen wurden leider durch Beschwerden von Bürgerinnen und Bürgern verzögert. Die Beschwerden wurden ernst genommen und soweit es möglich war, wurden bauliche Veränderungen vorgenommen.
Von der viergliedrigen Struktur des KJND fehlt nach wie vor noch die vierte Säule: die Sleep In-Stelle.
Nachdem der erste Anlauf durch die o.g. Schwierigkeiten mit dem Mietobjekt scheiterte, lud die Verwaltung des Jugendamtes im Januar 2020 interessierte Träger zu Workshops ein, in der über konzeptionelle Ideen und deren Umsetzung debattiert und das Projektvorhaben spezifiziert wurde. Dann wurde die Beschlussvorlage mehrmals angekündigt, aber nie auf die Tagesordnung gesetzt bzw. von dieser wieder gestrichen. Erst reichlich ein Jahr später, am 23. März 2021, wurde das Thema erneut im JHA behandelt. Die im JHA vorgetragene Idee war, die Sleep-In-Stelle nunmehr nur mit 4 Plätzen (und zwei Notplätzen) zu betreiben. Es soll sich nach wie vor um ein kurzfristiges, niedrigschwelliges Angebot für junge Menschen handeln, welches auf freiwillige Beratung abzielt und einen sicheren Raum zum Essen, Duschen und Schlafen bietet. Die notwendigen finanziellen Mittel wurden für die Jahre 2021 und 2022 mit je 500.000 € im Haushalt eingeplant.
Es hätte gut gehen, endlich starten und damit das eigentliche Vorhaben der Dezentralisierung des KJND umgesetzt werden können. Leider kam es anders.
Der damals zuständige Bürgermeister Herr Burghart (CDU) wirbt (aufgrund der fortgeschrittenen Dauer der Sitzung in Zeiten der Pandemie) dafür, die Vorlage zu verschieben. Diese Idee wird von der CDU in einen ÄA formuliert, der die Vertagung vorsieht und mit Blick auf die finanzielle Haushaltslage der Stadt zugleich auffordert, die neuen Förderbedingungen des Europäischen Sozialfonds (ESF) abzuwarten und ggf. dort „Fördermittel abzugreifen“. Dieser Vorschlag wird mit einer knappen Mehrheit von 7 zu 6 Stimmen angenommen und damit der Start des Projektes auf unbestimmte Zeit verschoben. Das geschieht, obwohl sowohl verschiedene Stadträt:innen als auch Vertreter:innen der freien Jugendhilfe, die Vertreterin der Polizei und die Kinder- und Jugendbeauftragte der Stadt eindringlich für die Beibehaltung des ursprünglichen Beschlusses geworben haben und das Geld eingeplant war!
In der Sitzung des JHA vom 25.01.2022, also zehn Monate später, wird deutlich, dass das Projekt gescheitert ist. Die ESF-Mittel „Jugend stärken- Brücken in die Eigenständigkeit“ können nicht für Vorhaben eingesetzt werden, deren Betrieb an eine Betriebserlaubnis gekoppelt ist, so wie es beim Sleep-In-Projekt zwingend der Fall wäre. Zwar sind die Haushaltsmittel offiziell noch eingeplant, aber die Umsetzung des Projektes 2022 macht schon deswegen keinen Sinn, weil zum Einem erst noch ein Interessenbekundungsverfahren gestartet werden müsste und zum Anderem unklar ist, ob es gelingen wird, die notwendigen Mittel auch in den nächsten Jahren zur Verfügung zu stellen.
Fachlich ist es ein Schlag ins Gesicht derjenigen Fachkräfte, die sich wieder und wieder mit der Umsetzung des innovativen Vorhabens beschäftigt haben. Vor allem aber ist es bedauerlich, dass ohne Not die gute fachliche und konzeptionelle Idee nicht umgesetzt werden kann und weiterhin junge Menschen im KJND aufgenommen werden, auf die das Angebot überhaupt nicht zugeschnitten ist. Auch die anderthalbstündige Diskussion zum Tagesordnungspunkt in der Sitzung des JHA vom 23.03.2019 zeigt, dass die vorgesehene Expertise und Erfahrung auf dem Gebiet zur Kinder- und Jugendhilfe (§ 71 SGB VIII) bei den Mitgliedern des JHA sehr unterschiedlich ausgeprägt ist. So bleibt der KJND bis zur Fertigstellung der beiden Bauvorhaben des SFZ leider in einer sehr angespannten Situation. Dies geht vor allem zu Lasten der Kinder und Jugendlichen, die durch die herausfordernde räumliche Situation im KJND nicht zur Ruhe kommen können.
Es braucht dringend das vierte und spezialisierte Angebot für minderjährige junge Menschen, die das gleiche Recht auf Schutz und Sicherheit haben wie alle anderen, auch wenn sie in den herkömmlichen Angeboten nicht adäquat betreut werden können oder wollen. Die Sicherstellung des Kindeswohls und der Schutz junger Menschen dürfen nicht abhängig von einem kommunalen Haushalt sein. Die Garantenstellung des Jugendamtes (Wächteramt nach Artikel 6 GG) ist eine Pflichtaufgabe der Stadt Chemnitz – auch für sehr herausfordernde Jugendliche in Krisen.